Leipziger Dobermann bindet Kuzorra

 

Schalke gegen Leipzig ist ein Fußball-Klassiker mit Seltenheitswert. Kein Wunder nach den bisherigen Aufeinandertreffen, dass dieser Städtevergleich als Top-Spiel des Saisonauftaktes 2017/ 18 ausgewählt wurde. Die allererste Begegnung zwischen beiden Städten schrieb gleich Pokalgeschichte. 

Seit 1985 ist das Berliner Olympiastadion die zentrale Wallfahrtsstätte des DFB-Pokals – und gleich zum Auftakt wurde ein Fußballmärchen geschrieben, als der krasse Außenseiter Bayer Uerdingen den Rekordsieger Bayern München 2:1 bezwang.

Das erste Pokalfinale im Berliner Olympiastadion fand jedoch fast ein halbes Jahrhundert zuvor statt. Und auch damals besiegte der David den Goliath.

Schalke 04 war in den 1930er und frühen 1940er Jahren das Maß aller Dinge im deutschen Fußball. Der Deutsche Pokal war 1935 begründet worden, das Endspiel fand anfangs jedoch nicht wie heute im Mai statt, sondern zum Jahreswechsel. Zur Premiere trafen gleich die beiden damals besten Teams des deutschen Fußballs aufeinander: Schalke 04 versus 1. FC Nürnberg.

Die Clubberer siegten 2:0. Den Ärger darüber hatten die Königsblauen immer noch im Kopf, als sie im Jahr darauf erneut im Endspiel standen. Nun sollte der Pokalsieg gelingen. Zumal der Gegner der Altmeister VfB Leipzig war, dessen Stern sich jedoch im Sinkflug befand.

Fachleute rätselten vorab lediglich über die Höhe des erwarteten Schalker Sieges, zumal Leipzig auch noch unter personellen Ausfällen litt, während S04 fünf aktuelle Nationalspieler in seinen Reihen hatte, darunter die Legenden Ernst Kuzorra und Fritz Szepan, den sogar die britischen Medien als „Mister Snowball“ verehrten.

Bei Leipzig hingegen gab aus purer Personalnot unter anderem Herbert Gabriel im Finale sein Debüt (!) in der ersten Mannschaft. Der Linksaußen war erst zu Saisonbeginn nach Probstheida gekommen, agierte vorerst aber in der Zweitvertretung des VfB, rückte nun für Leistungsträger Peter Holst ins Team.

Immerhin: Leipzig hatte im Pokal wiederholt aufhorchen lassen, indem fünf von 16 Gaumeistern besiegt wurden. Mit Schalke könnte man nun das halbe Dutzend vollmachen … Ein Traum, den jedoch niemand zu äußern wagte.

Die Schalker Asse nahmen Leipzig jedoch nicht ernst und zeigten dem Gegner bei persönlichen Begegnungen vor dem Anpfiff die kalte Schulter. Königsblau war ganz auf sich konzentriert und wollte schnell für klare Verhältnisse sorgen an jenem 3. Januar 1937 im Berliner Olympiastadion.

Kurz vor Weihnachten hatte S04 im Revierderby den aufkommenden Rivalen Borussia Dortmund 4:1 demontiert. So sollte es nun auch Leipzig ergehen. Der unwiderstehliche „Schalker Kreisel“ kam sofort in Fahrt und markierte im Anschluss an eine Ecke sogleich das erste Tor. Doch der Berliner Schiedsrichter Zacher erkannte den Treffer nicht an. Abseits.

Die Rekordkulisse von 70.000 Besuchern im Olympiastadion raunte. Darunter 4.000 Fans aus Leipzig, die mit fünf Sonderzügen angereist waren. 35 Pfennig kostete eine Stehplatzkarte, die teuersten Sitzplätze 1,10 Reichsmark.

Schalke hatte erwartet, dass Leipzig tief steht und sich aufs Stören der königsblauen Fußballkunst konzentriert. Doch die schnellen und beweglichen Sachsen störten früh und griffen frech an.

In der zehnten Minute knallte Herbert Gabriel den Ball an den Pfosten. Ein erster Warnschuss? Kann passieren, registrierte der Favorit aus Westfalen.

Doch dann kann Schalkes guter Keeper Mellage einen Hammer von Georg Reichmann nur in die Mitte fausten, Leipzigs Mittelstürmer Jakob May ist zur Stelle und macht das 1:0 für die Sachsen (19.). Schalke ist leicht irritiert, während Leipzig konsequent nachsetzt.

Nach einer halben Stunde ist es wieder der Halblinke Reichmann, der mit einem öffnenden Pass den quirligen Herbert Gabriel findet. Der lässt erst den Schalker Bornemann stehen, umkurvt dann auch den herausstürmenden Mellage und schießt mit seinem eher schwachen rechten Fuß von der Strafraumgrenze ins leere Tor – 2:0 für Leipzig.

Aber Schalke zeigt Charakter. Jetzt brummt der Schalker Kreisel. Kurz vor der Pause markiert Goalgetter Ernst Kalwitzki das 1:2 (42.). In der Halbzeit sind sich die Experten sicher: Es wird am Ende auf ein 5:2 für Schalke hinauslaufen…

Doch Schalkes Sturmtank Ernst Kuzorra ist an diesem Tag nur ein Schatten seiner selbst. Leipzigs bissiger Kapitän Erich Dobermann hat ihn weitgehend im Griff. Die Minuten verrinnen und Leipzig verteidigt aufopfernd. Torwart Bruno Wöllner macht das Spiel seines Lebens – und dann verweigert der Schiedsrichter auch noch einem zweiten Schalker Treffer die Anerkennung …

Es ist zum Verrücktwerden aus Schalker Sicht. Und trotzdem zeigen sich die Königsblauen am Ende als faire Verlierer. Leipzigs Hingabe und konsequenter Kampf hat sie beeindruckt. Die von Heinz Pfaff trainierten Leipziger hatten sie mit den Tugenden geschlagen, für die der Malocher-Club einst und bis heute steht.

Es war der letzte große Erfolg des Uraltmeisters VfB Leipzig. Während der deutschen Teilung nach den Katastrophen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges verlieren sich seine Spuren. Nach Mauerfall und Wiedervereinigung entdeckte Lok Leipzig zu Beginn der 1990er Jahre eine Ahnenlinie in Richtung VfB Leipzig, zumal man in dessen früheren Stadion spielt, und benannte sich um in VfB.

Der große Name wirkte offenbar Zauber und Leipzig schaffte 1993 für ein Jahr den Einzug in die Bundesliga. Nach wiederholter Insolvenz wurde der Name VfB im Jahr 1999 aus dem Vereinsregister gelöscht.

Schalke 04 gewann ein Jahr später als erster Verein das Double aus Deutscher Meisterschaft und Pokalsieg. Die bekannten historischen Ereignisse führten dazu, dass Schalke und Leipzig sich erst mehr als ein halbes Jahrhundert nach der ersten Begegnung wieder in Pflichtspielen trafen: In der besagten Bundesligasaison 1993/ 94 gewann S04 am 5. November 1993 im Parkstadion vor 25.000 Besuchern 3:1 (1:0) und gab es am 23. April 1994 im Leipziger Zentralstadion vor 6.100 Zuschauern ein 2:2 (0:2).

Das Topspiel des Bundesliga-Auftakts 2017/ 18 macht somit das halbe Dutzend voll an Begegnungen von Schalke 04 mit Leipziger Teams, die in der bisherigen Bilanz mit 2 Siegen, 1 Niederlage und 2 Unentschieden knapp führen.

 

Holger Gemmer